Gedanken zum Menschenbild in der Psychoanalyse

Aus behandlungstechnischer Perspektive haben jeweilige implizite bzw. explizite Menschenbilder Einfluss auf verschiedene Bereiche, u.a. auf das Selbstbild des Therapeuten/ der Therapeutin, die Grundhaltung zur Methode bzw. zum jeweiligen Menschen (PatientInnen, KollegInnen etc.), die Art und Weise der Beziehung (z.B. symmetrische bzw. asymmetrische Kommunikation), Diagnostik, Theoriebildung, Technik und Werte bzw. moralische Urteile.

Wenn wir vom Begriff „Menschenbild“ sprechen bzw. uns eines vorstellen: was sehen wir da? Sehen wir einen Mann, eine Frau, eine Transgender-Person, ein Kind, einen älteren Menschen? Ist dieser gesund oder leidet er? Welche Herkunft, Hautfarbe, Bekleidung soziale Situation fließen hiermit ein? Vermittelt dieses Bild etwas Gegenwärtiges, etwas Vergangenes oder etwas Zukünftiges?

Handelt es sich dabei um ein idealisiertes Bild, so wie wir denken, dass der Mensch „ist“, bzw. „sein sollte“ bzw. glauben wir in unserem Menschenbild die sogenannte „Natur des Menschen“, dessen Quintessenz erkennen zu können?

Entspricht dieses Menschenbild eigenen Projektionen, Erfahrungen, Befürchtungen und Idealen? Wird dieses einfach unbewusst von der Herkunftsfamilie bzw. anderen prägenden Personen oder durch Medien bzw. eine bestimmte – in diesem Fall psychotherapeutische bzw. psychoanalytische Methode – vermittelt und übernommen?

Psychoanalyse:

Was versteht man eigentlich unter „Die Psychoanalyse“, wenn man von ihr spricht? Meint man Freud … und dann die anderen? Oder untersucht man, welche von Freuds Konzepten heute noch verwendet werden bzw. streitet sich dabei um Überzeugungen und Argumente, wie „aktuell“ oder „überholt“ Freud heute noch ist?

Die Psychoanalyse hat sich mittlerweile zu einem sehr umfassenden und schwer zu überschauenden Gebiet entwickelt, in dem sich viele methodische Strömungen und Theorien unter einem gemeinsamen Dach abbilden, u.a. Theorien zur Erforschung des Unbewussten, die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorie, die Neopsychoanalyse, die Selbstpsychologie, intersubjektive bzw. relationale Theorien, Lacan und die Strukturale Psychoanalyse, die Ethnopsychoanalyse, die Neuropsychoanalyse, Bindungs- und Affekttheorien bzw. Konzepte aus dem Gebiet der Säuglings- Mentalisierungs- und Bindungsforschung.

Kann man inmitten dieser Vielfalt überhaupt von einem einheitlichen Menschenbild sprechen?

Gemeinsam ist diesen Konzepten neben der Grundannahme eines dynamischen, persönlichen Unbewussten der Gedanke der Entwicklung: Der Mensch als eine Person mit mehr oder weniger bewussten Anteilen und seiner persönlichen, individuellen Geschichte, seiner eigenen Identität, beeinflusst durch sowohl konstitutionelle als auch lebensgeschichtlich erworbene Eigenschaften, sich zwischen progressiven und regressiven Tendenzen bewegend.

Der schweizerisch-israelische Psychologe, Philosoph und Existenzialpsychoanalytiker Carlo Strenger unterscheidet auf interessante Weise zwischen „klassischen“ und „romantischen“ Ansichten in der Psychoanalyse (Strenger, 1989). Diese Positionen sind ideengeschichtlich mit divergierenden philosophischen Strömungen des 18. Jahrhunderts – die der vernunftorientierten Aufklärung (z.B. Kant, Hegel) und die der Romantik (z.B. Rousseau, Goethe) – verwandt.

Aus der klassischen Perspektive betrachtet, wäre demnach der Mensch ein grundsätzlich limitiertes Wesen, kann aber durch Regeln und Traditionen dazu gebracht werden, im Leben etwas Vernünftiges zu tun. Als Vertreter dieser Richtung nennt der Autor z.B. Freud, die amerikanische Ich-Psychologie (Hartmann, Kris, Loewen-stein), Melanie Klein und die französische Schule der Psychoanalyse (Janine Chasseguet-Smirgel). Diese Haltung kann z.B. in der Rolle des Vaters symbolisch zum Ausdruck gebracht werden und spiegelt sich z.B. im wissenschaftlichen, logischen Denken, der Vernunft und der Moral.

Der Mensch kann im Streben nach Autonomie, Wachstum und Reifung (z.B. Triebbeherrschung zugunsten kultureller Anpassung) lernen, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. In der analytischen Grundhaltung ergibt sich eine Kombination aus Respekt und Skepsis. Der Analytiker/ die Analytikerin bleibt neutral, vertritt das Realitätsprinzip im Sinne einer eher stoisch orientierten Ethik. Die Reife der Persönlichkeit und psychische Gesundheit hängen von dem Grad ab, in dem die PatientInnen die Realität anerkennen, rational und weise sein können.

Aus der romantischen Position gesehen wäre – vereinfachend gesagt – der Mensch grundsätzlich gut, aber ein Opfer der Umstände. Hierzu könnten z.B. Ferenczi, Balint, die britischen Objektbeziehungstheoretiker (speziell Winnicott) und der Selbstpsychologe Heinz Kohut gezählt werden. Das containende Element, die Idee der „guten Mutter“, schließt sich hier an. Daraus ergibt sich optimistisches Bild des Menschen mit seinen Anlagen und Talenten, mit grundsätzlicher Liebesfähigkeit und einem genuinen Entwicklungspotential.

Jede Person hätte ein eigenständiges Selbst mit einer einzigartigen Sichtweise der Welt, spontan und motiviert von ihren eigenen Idealen. Aus dieser Grundhaltung vermittelt sich Vertrauen in die menschlichen Qualitäten des Patienten.

Der Analytiker/ die Analytikerin nimmt eine Position der Vitalität und der Lebensfreude ein. Im Sinne einer eher romantisch orientierten Ethik bestehen Reife der Persönlichkeit und psychische Gesundheit aus der Fähigkeit, Enthusiasmus und einen Sinn im Leben aufrechtzuerhalten.

Strengers Artikel ist bei weitem umfassender und vielschichtiger, als es hier auf knappem Raum wiedergegeben werden kann.

Zusammenfassend möchte ich vorschlagen, diese beiden Positionen als Pole eines Kontinuums anzusehen, mit fließenden gestaltenden Übergängen. Auch ist Freud – stellvertretend für andere – nicht immer gleichgesetzt mit der Rolle des strengen Vaters, wie er oft vereinfachend interpretiert wird. Ebenso wenig ist es für einen vielschichtigen Blick auf z.B. Winnicott föderlich, wenn dieser bzw. sein Werk immer wieder auf das bloße Sujet der „good enough mother“ reduziert wird.

Ich denke, es lohnt sich, grundsätzlich für beide der kurz vorgestellten Positionen offen zu sein, Zwischentöne zuzulassen, um reflektiertes Fühlen, Denken und Handeln zu ermöglichen und flexibel auf jeweilige Situationen bzw. Problemstellungen anpassen zu können. Behandlungstechnisch können sich je nach Person, Themen und Phasen im Prozess eher die eine bzw. die andere Perspektive (neben weiteren möglichen) als nützlich bezüglich Beziehung, Erkenntnisgewinn und Therapieverlauf erweisen.

Zum Abschluss George Devereux: Er mahnt uns vor unreflektierten Abwehrhaltungen, etwa der Rolle des „Humanisten“, der Menschen retten will oder der des „selbststilisierten, nüchternen Verhaltenswissenschaftlers“ – wenn er uns an die Wichtigkeit erinnert, selbst Mensch zu sein und sich als solcher seines eigenen Menschseins bewußt zu bleiben, wenn er schreibt: „Ich glaube, daß der Mensch nicht vor sich selber gerettet werden muß. Es genügt, wenn er selbst sein kann. Die Welt hat Menschen nötiger als “Humanisten” (vgl. Devereux 1967 (1992, S.21 f.).

Autor: Thomas Barth

Artikel zuerst publiziert auf www.derwienerpsychoanalytiker.at (19.04.2017)

Quellen/ References:

DEVEREUX, Georges (1967): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Deutsche Übersetzung: Caroline Neubaur und Karin Kesten. Dritte Auflage. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 461, Frankfurt am Main 1992

STRENGER, Carlo (1989): The Classic and the Romantic Vision in Psychoanalysis. International Journal of Psychoanalysis, 70:593-610